Sitzung: 08.11.2018 Gemeindevertretung
Vorsitzender der Gemeindevertretung, Herr
Tauscher
Wir haben uns heute zur Beratung der
Gemeindevertretung am Vorabend des 80. Jahrestages der Reichsprogromnacht
versammelt. Bevor wir uns den Aufgaben der Tagesordnung zuwenden, lade ich Sie
ein, mit mir einige Gedanken zu diesem historischen Datum zu betrachten.
Am 9. November 1938 gipfelte der staatliche
Antisemitismus in einem Pogrom gegen die Juden. Die Ausschreitungen waren von
der nationalsozialistischen Führung organisiert, die die Diskriminierung und
Verfolgung jüdischer Bürger seit der „Machtergreifung“ Hitlers 1933
systematisch vorantrieb.
Am Vormittag des 7. November 1938 feuert der
17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in
Paris zwei Kugeln auf einen deutschen Diplomaten. Das Opfer, der
Botschaftssekretär Ernst vom Rath, wird schwer verletzt. Der Schütze will mit
seiner Tat auf die Deportationen polnischer Juden im Oktober 1938 aufmerksam
machen, unter denen auch seine eigenen Eltern sind. Die NS-Führung nutzt das
Attentat als Vorwand für eine großangelegte Welle der Gewalt gegen Juden in
Deutschland.
Schon am 8. November, am Tag nach dem Attentat, ereifert sich die Parteizeitung
der NSDAP, der "Völkische Beobachter" darüber, dass in Deutschland
"Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen". Am Abend
des 9. November wird der Tod des deutschen Diplomaten in Paris bekanntgegeben. Später
an diesem Abend sagt Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Rede,
Ausschreitungen gegen Juden seien "von der Partei weder vorzubereiten
noch zu organisieren". Allerdings sei ihnen soweit sie spontan entstünden
auch nicht entgegenzutreten".
Die bei dieser Rede anwesende NS-Führung verständigt noch am selben Abend ihre
Gauleitungen. Die Staatspolizei soll Plünderungen verhindern, aber sonst nicht
eingreifen. Brände sollen nur insofern gelöscht werden, um umliegende
Gebäude zu schützen. Gleichzeitig wird befohlen, in allen Bezirken so viele
Juden wie möglich festzunehmen.
In der Folge kommt es noch in derselben Nacht an hunderten Orten zu
gewalttätigen Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung. Obwohl die meisten
Ausschreitungen in der Nacht des 9. November stattfanden, war die sogenannte
Reichspogromnacht nicht auf diese Zeit beschränkt: An einigen Orten, wie z.B.
in Nordhessen, brachen die ersten Unruhen schon in der Nacht des 7. November
aus. Während der Pogrome wurden im Gebiet des Deutschen Reiches 91 Menschen
ermordet. Viele Menschen starben noch Tage und Wochen später an ihren schweren
Verletzungen. In den darauffolgenden Tagen wurden über 30.000 jüdische Männer
verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die materielle Bilanz der
Gewalt waren 1.200 niedergebrannte Synagogen und Gebetshäuser und 7.500
zerstörte Geschäfte. Die Pogrome und die aufgeheizte antisemitische
Stimmung im Land übten auch indirekt Gewalt auf die jüdische Bevölkerung aus:
Die Zahl der Suizide jüdischer Bürger nahm
in der Zeit nach der Pogromnacht stark zu.
Der Terror der Pogromnacht wurde fortgesetzt
durch Verordnungen, die den Juden auferlegten, eine "Sühneleistung"
in Höhe von eine Milliarde Mark an das Deutsche Reich zu zahlen, alle Schäden
sofort selbst zu beheben, die Kosten für die Wiederherstellung selbst
aufzubringen und die von den Versicherungen gezahlten Entschädigungen an das
Reich abzuführen. Außerdem wurde die "Arisierung" aller jüdischen
Unternehmen und Betriebe angeordnet und damit alle Juden aus dem deutschen
Wirtschaftsleben ausgeschaltet.
Die antisemitischen Ausschreitungen im Rahmen der "Reichspogromnacht"
waren ein Wendepunkt in der Geschichte der Judenverfolgung im
nationalsozialistischen Deutschland, obwohl auch davor schon Synagogen in Brand
gesetzt worden waren. Die erste systematische reichsweite Aktion gegen die
jüdische Bevölkerung war der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933. Mit
den Nürnberger Gesetzen von 1935 wurde antisemitischen Überzeugungen auch
gesetzlicher Rückhalt verschafft.
In den Tagen und Monaten nach den Pogromen
wurde eine neue Welle von Gesetzen verabschiedet, die die Rechte der jüdischen
Bevölkerung noch weiter einschränkten.
Für das bürgerschaftliche Engagement, seit
2005 die Geschichte der Juden in Kleinmachnow erforscht zu haben, so auch zum Judenhaus
„Auf der Drift 12“, gebührt der Gruppe Stolpersteine hohe Anerkennung. Am
8. Mai d.J. konnte sie sich ins Goldene Buch von Kleinmachnow eintragen.
Angesichts der in unserem Land
wieder lautstark vernehmbaren rechtsradikalen Parolen bleibt die in seiner
Proklamation am 3. Januar 1996 zum Gedenktag für den Holocaust am 27. Januar
formulierte Mahnung vom Bundespräsidenten Roman Herzog aktuell:
„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur
Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu
finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken,
dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung
entgegenwirken.“...
„Dieses Gedenken ist nicht als ein in die Zukunft wirkendes
Schuldbekenntnis gemeint. Schuld ist immer
höchstpersönlich,
ebenso wie Vergebung. Sie vererbt sich
nicht.“
Ich bitte Sie, sich aus Achtung
vor den Opfern von den Plätzen zu erheben.
Ø
Herr Singer bedankt sich bei Herrn
Tauscher für die Initiative, zu diesem Thema zu sprechen.
Er
fügt noch hinzu, dass vom 6. bis 7. Juli 1938 in Évian, Frankreich, eine
Konferenz von 32 Staaten unter dem Einfluss der USA und Kanada stattfand, die
auf Vorschlag von Roosevelt darüber beraten wollte, wie den noch verbliebenen
330.000 deutschen und 170.000 österreichischen Juden geholfen werden kann. Wenn
man sich die Unterlagen von dieser Konferenz anschaut wird man merken, dass man
das alles kennt. Keiner der Staaten war bereit, auch nur einen von den
verfolgten jüdischen Menschen aufzunehmen. Das war das Signal für die
Machthaber im dritten Reich, dass sie keinen Widerstand zu erwarten haben.